Sans-Papiers am 1. August in Eiken AG

Gedanken zum Thema sowie ein Erlebnisbericht von der Aktion in Eiken anlässlich der 1. August-Rede von Eveline Widmer-Schlumpf.

Am gestrigen 1. August sind die Bleiberecht-Kollektive nach Eiken gereist, um Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf mit der politischen Situation der geschätzten 200‘000 Sans-Papiers in der Schweiz zu konfrontieren. Wir (Karakök Autonome) haben die Aktion aktiv unterstützt und möchten nachfolgend darüber berichten, zuvor aber einige wichtige Gedanken und Hintergründe ansprechen.

Bereits auf der Kleinen Schanze in Bern (Besetzung vom 26. Juni bis 2. Juli, siehe auch «Kleine Schanze in Bern weiterhin besetzt» und «Widmer-Schlumpf drückt sich vor der Verantwortung») hatte man mehrmals das Gespräch mit Widmer-Schlumpf gesucht, welches sie jeweils ausgeschlagen hatte. Selbst als die Sans-Papiers bis vor das Bundeshaus marschierten und einen Brief an Widmer-Schlumpf vorlasen, war diese nicht dazu bereit, sich die Anliegen der AktivistInnen anzuhören. Auf den Brief mit konkreten Forderungen hat sie bis heute nicht geantwortet.

Tatsache ist: Hunderttausende von Menschen leben unter prekären Bedingungen hier in der Schweiz. Sie sind gezwungen zur Schwarzarbeit, ohne jegliche sozialen Rechte und zu Hungerlöhnen, sie haben keinerlei medizinische Versorgung, ihre Kinder können nicht zur Schule, sie sind gezwungen, sich ständig zu verstecken, aus Angst, in eine polizeiliche Kontrolle zu geraten. Sie dürfen nicht auffallen, sind offiziell nicht existent, sitzen nicht im Knast und leben trotzdem hinter Gittern. Die hiesige Wirtschaft nutzt ihre Situation schamlos aus, indem sie sie zu Löhnen und Bedingungen arbeiten lässt, die kein anderer Mensch akzeptieren würde. Im Gegenzug dazu erhalten Sans-Papiers nichts, im Gegenteil: trotz fehlender Papiere müssen sie AHV-Beiträge bezahlen – sind aber nicht berechtigt, die einbezahlten Beiträge später in Form einer Rente zu beziehen. Dass sie keine Papiere besitzen, ist der einzige kümmerliche Grund, weshalb sie vom Staat als Kriminelle erachtet und entsprechend behandelt werden. Diese Position ist erschreckend ignorant angesichts der Tatsache, dass sowohl politisch als auch ökonomisch motivierte Migration in erster Linie dadurch bedingt wird, dass hochkapitalistische Länder anderen Ländern die Existenzgrundlagen nehmen.

Das Ackerland etlicher Länder in Afrika, Südamerika oder Asien wird von westlichen Konzernen in Anspruch genommen (ganz zu schweigen von den elenden Arbeitsbedingungen der für diese Konzerne arbeitenden Menschen, von Hungerlöhnen, Kinderarbeit, gesundheitsschädigendem Arbeitsmaterial und Übergriffen) und die daraus gewonnenen Produkte exportiert. Die Bevölkerung ist nicht berechtigt, das Land, in dem es lebt, dazu zu nutzen, Nahrung für sich selbst anzubauen. Ein Beispiel ist die Kaffeeproduktion in mehreren Ländern, welche für den europäischen und US-amerikanischen Markt hergestellt wird und das Ackerland zerstört sowie jegliche anderweitige Nutzung verunmöglicht.

Rohstoffe weniger industrialisierter Länder* sind von Grosskonzernen unter wesentlicher Beteiligung der Regierungen industrialisierter Länder aufgekauft. Selbst die einzigen Wasserquellen etlicher bevölkerter Gebiete sind privatisiert (Nestlé) und werden in kapitalistisch führende Länder transportiert.

Politische Konflikte werden nicht nur von Regierungen industrialisierter Länder gefördert, sondern oftmals erst provoziert und damit ein immenser Markt angekurbelt: der Waffenexport. Die Schweizer Regierung ist mitten dabei und scheut nicht davor zurück, exportierte Waffen als «humanitäre Hilfe» zu deklarieren.

Dies sind nur einige wenige Beispiele, welche die erschreckende Ungerechtigkeit, die unglaubliche Ignoranz und die masslose Ausbeutung von Millionen von Menschen repräsentieren.

Migration findet immer unter diesem Hintergrund statt. Dies zu thematisieren, hat nichts mit «Gutmenschen» zu tun, sondern schlicht und einfach mit Gerechtigkeit. Es kann und darf nicht angehen, dass Regierungen industrialisierter Länder Millionen von Menschen ihre Existenzgrundlage nehmen und diese so zur Migration zwingen – anschliessend jedoch MigrantInnen zu Sündenböcken deklariert werden und Rassismus geschürt wird. Dies ist nichts anderes als eine bodenlose, scheinheilige Heuchelei. Die Zirkulation von Menschen wird verteufelt, während der Kapitalismus erst auf der Zirkulation von Kapital, Gütern und Besitztümern aufgebaut ist.

Als AnarchistInnen sehen wir daher das ursächliche Problem nicht damit gelöst, dass Sans-Papiers regularisiert werden, wenn dies auch ein unbedingt notwendiger Schritt ist, um den prekären Lebensbedingungen etlicher Menschen Einhalt zu gebieten. Es ist unabdingbar, diesen Menschen jetzt (!) sofort (!) ein Leben in Würde zu gewähren, denn dies ist ihr unantastbares Menschenrecht. Allerdings ist es wichtig, tiefer zu blicken und dort anzufangen, wo die Ausbeutung beginnt, die ungleiche Güterverteilung, der Anspruch auf Privateigentum anstatt kollektiv genutzter Lebensräume. Dort, wo Grenzen zwischen Lebensräumen gezogen werden und künstliche Einheiten wie Staaten kreiert werden. Erst wenn wir diese überwinden, kann ein kollektiv organisiertes, gerechtes Leben für alle entstehen.

Nichtsdestotrotz sind die Lebensbedingungen, welche Hunderttausende von Sans-Papiers tagtäglich erleiden müssen, unter keinen Umständen akzeptierbar. Daher sind wir gestern mit den Bleiberecht-Kollektiven nach Eiken (AG) gereist, wo Eveline Widmer-Schlumpf eingeladen war, eine 1. August –Rede zu halten. Das Ziel der Sans-Papiers-AktivistInnen war es nicht, das Fest der dort lebenden Menschen zu stören, sondern die Bundesrätin mit der Realität zu konfrontieren und sie an ihre ausstehende Antwort zu erinnern. Die 1. August-Feier ist ein öffentlicher Anlass, an dem jede und jeder teilnehmen kann und darf. Dieses Recht steht uns ebenso zu, wie der Bevölkerung von Eiken. Ohne die Rede von Widmer-Schlumpf zu verhindern, wollten wir unserer eigenen Position Ausdruck verleihen und selber eine Rede halten. Das Recht, seine Meinung zu äussern, steht uns ebenso zu, wie jedem in Eiken wohnhaften Menschen oder irgendeinem anderen Menschen. Nicht zu vergessen, dass das Motto des diesjährigen 1. August-Festes «Eiken für alle» lautete. Dies nahmen wir wörtlich.

Unsere Motivation sowie unser Vorhaben wurden offen kommuniziert. Dennoch war das Polizeiaufgebot von Anfang an immens. Der Zug, in dem wir uns befanden, wurde gar von einer Polizeieskorte begleitet. Am Bahnhof Eiken ausgestiegen, wurden wir just von der Polizei eingekesselt und am Weitergehen gehindert. Anschliessend unterbreitete uns die Polizei diverse groteske Vorschläge des weiteren Vorgehens. So wollte die Polizei z.B. sämtliche Ausweise aller Anwesenden einsehen und deren Fotokopien anfertigen – und das wohlwissend, dass die AktivistInnen doch gerade eben aus dem Grund anwesend waren, gar keinen Ausweis zu besitzen. Der Vorschlag wurde daher vehement und einstimmig abgelehnt. Nach mehreren Diskussionen konnten wir schliesslich durchsetzen, am Fest teilzunehmen, ohne unsere Identitäten darlegen zu müssen. Ausserdem wurde eine Delegation von fünf AktivistInnen bestimmt, welche die Gelegenheit erhalten sollte, nach der Festrede mit Eveline Widmer-Schlumpf zu sprechen. Im Gegenzug akzeptierten wir, keine Megaphone ans Fest mitzunehmen und das Fest nicht zu vereiteln (was ohnehin nie unsere Absicht gewesen war).

So zog eine Gruppe von 150 Personen singend und mit Transparenten ausgerüstet zum Festgelände. Ohne das Festprogramm zu verhindern, nutzten wir die Möglichkeit, Präsenz zu markieren und einen Sitzstreik durchzuführen.

Die Rede von Widmer-Schlumpf war ziemlich belanglos – sie begnügte sich damit, den Schweizer Staat zu preisen, was angesichts des Rahmens der Rede (Nationalfeiertag) zwar sicher nicht verwunderlich ist, allerdings hätte sie auf die Sans-Papiers-Thematik durchaus eingehen können und hätte somit Kommunikationsbereitschaft zur Auseinandersetzung mit einem hochaktuellen Thema bewiesen. Erstaunt hat uns dies allerdings nicht, es war nichts anderes zu erwarten gemäss ihrer politischen Ausrichtung. Stattdessen richtete sie gleich zu Beginn der Rede eine Drohung an die anwesenden Sans-Papiers und warnte sie davor, die Rede zu stören. Weder sie, noch der Festveranstalter nannten das Bleiberichts-Kollektiv beim Namen, sondern blieben bei «diese Gruppierung, die anwesend ist». Dafür war die Eikener Bevölkerung umso neugieriger, wer denn hinter dieser schrecklichen «Gruppierung» stecken möge, so dass wir reichlich Flyer verteilen konnten. Die interessanten Kontakte mit der Eikener Bevölkerung genossen wir sehr.

Das Polizeiaufgebot war auch während des Festes gewaltig. Unmengen von KantonspolizistInnen, Sicherheitsleuten und Zivis waren omnipräsent und schienen sichtlich angespannt. Unsere Ausweise zu zeigen, hatten wir zwar nicht akzeptiert, allerdings umging die Polizei diese Abmachung, indem sie alle Anwesenden ausgiebig filmte und fotografierte.

Nach der Festrede von Widmer-Schlumpf fand ein Gespräch mit der fünfköpfigen Bleiberecht-Delegation statt. Über deren Inhalte werden wir in Bälde an dieser Stelle informieren.

Bleiberecht überall und für alle! Reissen wir alle Grenzen und Mauern ein!

Lebensräume und Lebensgrundlagen gehören allen und dürfen kein Privateigentum darstellen, weder von Staatsgewalten, noch von Einzelpersonen oder Konzernen!


Karakök Autonome tr/ch

*Wir vermeiden bewusst die Bezeichnungen «arm» oder «Entwicklungsland», da Armut und Entwicklung subjektive und diskriminierende Begriffe sind. Das kapitalistische Selbstverständnis geht davon aus, dass «arm» ist, wer weniger besitzt, als es der kapitalistische Markt vorschreibt. Unter dieser Auffassung kann selbst jemand als arm gelten, der nicht besitzt, was wir gar nicht zum Leben benötigen (Handy, Internet, etc.). Angesichts der herausragend hohen Suizidrate in der Schweiz könnte man aber durchaus damit argumentieren, die Menschen in der Schweiz seien psychisch oder sozial verarmt. Ebenso könnte man argumentieren, dass Entwicklung nicht bedeutet, sich mittels Technologie möglichst von unserem Lebensraum, der Natur, abzugrenzen, sondern sich in und mit ihr zu entwickeln. Auch suggeriert das Wort «Entwicklungsländer», dass das kapitalistische System erstrebenswert und vollkommen sei und alle anderen Länder erst auf dem Weg dahin seien, dieses Ziel zu erreichen – Ein Ziel, bestehend aus Ausbeutung, Umweltzerstörung, Erschöpfung sämtlicher Ressourcen, vorgeschriebenem Alltag, Gier, ungerechter Güterverteilung, menschlicher Isolation und Doppelmoral. Diese Beispiele nur als Veranschaulichung der Vereinnahmung dieser Begriffe vom herrschenden politischen System.


Medienmitteilung Bleiberecht-Kollektive >>>
Medienmitteilung Kantonspolizei >>>
A-Z.ch Bericht vom 02.08.2010 >>>
A-Z.ch Bericht vom 03.08.2010 >>>
Radio DRS Bericht vom 02.08.2010 >>>


Besammlung in Frick (Alle Fotos: Bleiberecht-Kollektiv Zürich)

Letzte Vollversamlung vor der Aktion

Aufbruch nach Eiken

Dort erwartete uns die Polizei

Sie filmte…

…und umkreiste uns.

Informationen über die Verhandlungen mit der Polizei

In Eiken versammelten wir uns am Rande des Festgeländes

Mit Transparenten machten wir auf uns aufmerksam.

Die Rede von Bundesrätin Widmer-Schlumpf.

Nach der Rede näherten wir uns dem Rendnerpodium…

…weil wir selbst das Wort ergreifen wollten.

04.08.2010 | Karakök Autonome